01. Von Freud und Neid.

 

Also Auszeit. Satte drei Monate. Mitte Juni bis Mitte September. Ein Sommer in Italien. Genauer gesagt in Lerici, Liguria, einem Städtchen am Meer, in dem ich eine Wohnung in der Altstadt bewohnen werde, die - Sensation - einen kleinen Garten hat. Jawohl. Schon wieder Altstadt. Zum Meer laufe ich 2 Minuten. In Flip-Flops 3. Das ist neu. Seit drei Tagen weiß ich, dass ich dort einen ombrellone enorme haben werde, einen 3 x 3 Meter großen Sonnenschirm. Die Hängematte ist schon eingepackt. Das Leben draußen ist gesichert. 

Und doch mehr als Urlaub XXL. Wenn schon, denn schon…. Meinen Job habe ich jetzt mit Ende meines Projektes aufgegeben. Passt. Antonia ist zum Studieren ausgezogen. Passt. Totale Freiheit. Wann, wenn nicht jetzt.

 

Aber erst mal Vorfreude. Vorbereitung. Der Teebeutelspruch von heute Morgen, den ich eben eigens für euch wieder aus dem Müll gefischt habe, sagt dazu  „Wandel und Wechsel liebt, wer lebt. Change loves who is living.“ Passt schon wieder.

 

Seit Wochen und Monaten verabschiede ich mich nun von lieben Menschen und lieben Lebensroutinen. Von meinem verstorbenen Vater. Im Job. Antonias Auszug…. Alles sehr lebendig. Und hochemotional.

 

Klar ist da in den letzten Wochen auch immer mal wieder Freude und Erleichterung gewesen, so manchen weniger lieb gewonnenen Menschen oder so manche Lebensroutine einfach mal zurück lassen zu können. Auch mal toll. Interessanterweise war das ganz oben in den Top 10 eurer Willichauchs. Habe ich immer wieder gehört. Aber meine erste Motivation ist es definitiv nicht. 

 

Ich finde mich da eher bei Chateaubriand wieder:

 

„Ein Meister der Lebenskunst trennt nicht Arbeit und Spaß, Arbeit und Freizeit, Körper und Geist, Ausbildung und Erholung. Er vermag beides kaum zu unterscheiden. Er verfolgt einfach bei allem, was er tut, seine Vorstellung von Vortrefflichkeit und überlässt es anderen, zu beurteilen, ob er arbeitet oder sich vergnügt. In seinen Augen tut er immer beides.“

 

Klar. In so manchen Situationen habe ich in den letzten Wochen dann doch mit einem ganz zufriedenen inneren Lächeln festgestellt, dieser shit ist nicht mehr lange. Großartig.

 

Trotzdem. Ich finde mein Leben hier toll. Hier und jetzt. Ich muss nicht weg. Aber ich gehe trotzdem! Die Gelegenheit ist einfach zu günstig. Den Mut dazu habe ich auch zusammengekratzt. Also los.

 

Auszeit ist Zeit für neues. Und die hat schon mit dem Entschluss begonnen, mich ganz offen auf eine neue Lebenssituation einzulassen. Auszeit heißt nicht nur etwas weglassen. Sondern ganz viel neu dazu gewinnen. Ein Experiment. Was passiert, wenn ich mal eben für drei Monate die Zeit ausschalte - die totale Freiheit provoziere? Alles offen….

 

Auszeit. Zeit für mich. Aber auch für meine lieben. So manch einer kommt mich besuchen. Ich habe ganz bewußt ein appartamento mit Gästebetten gemietet. 

 

„Dein ganzes Leben lang liebst du Menschen, von denen du nie genau weißt, wer sie sind.“ Elena Ferrante, Die Geschichte eines neuen Namens.

 

Ja. Ich lese Elena Ferrante. Und ich empfehle Elena Ferrante. Wenn ich dann erst mal in Italien bin, lese ich sie auf italienisch. Das ist zumindest das Ziel. Ziel ist es auch, Zeit mit geliebten Menschen zu verbringen, von denen ich mir wegsein gar nicht wünsche. Gemeinsam sein. Gemeinsame Inspiration. Gemeinsam neues entdecken. Das Experiment Auszeit hautnah teilen. 

 

Schon in der Vorbereitung erlebe ich viel Experiment. Seit Wochen. Intensiv. Und die ganze Bandbreite. Von euphorischer Vorfreude bis schierer Panik. Ich habe sie fast nicht mehr erkannt - die schiere Panik…. Aber auch die hat mal hallo gesagt. Und unglaublich viel Feedback euch. Von allen Seiten. Viel positives Interesse. Anteilnahme. Bewunderung für meinen Mut und mein Vertrauen. Manchmal Unverständnis. Mitfreuen. Neid, der eigentlich mitfreuen sein will. Und nochmal mitfreuen.

 

Ein Lebensgefühl, das ich in einem meiner Lieblingsgedichte von Hilde Domin wiederfinde. Inzwischen fast bisschen abgelutscht. Aber es trifft es einfach. Das Thema meiner Auszeit ist dann doch nicht nur jeden Tag im Meer baden gehen und jeden Tag Qi Gong praktizieren….

 

 

Wer es könnte

 

Wer es könnte

die Welt 

hochwerfen

daß der Wind

hindurchfährt.

 

Es gab Momente und Phasen in meinem Leben, da habe ich ganz klar sagen können - JA. Die Welt hochwerfen? Kann ich. Mal schauen, was passiert, wenn ich diese Lebensgefühl ganz bewusst für längere Zeit kultiviere. Menschenversuche an sich selbst sind erlaubt. Fortschritt erwünscht. Erweiterung eben.

 

Die erste Erkenntnis meines Experimentes Auszeit - vielleicht auch für eure kleinen Auszeiten im Hamsterrad. Auszeit ist nicht Glotze einschalten, nicht weg sein. Auszeit ist die Welt hochwerfen. Gerne mitlesen. Gerne miterleben. Gerne mitmachen.

 

Freude. Vorfreude. Mitfreuen. 

Umarmung. Tanja